Lacrimosa

Loblieder an das Leben

(Interview mit Tilo Wolff, Juli 1995)

Mit LACRIMOSA macht in jüngster Zeit eine Formation in der Hard & Heavy-Szene von sich reden, die aus der Gothic-/Dark Wave-Ecke stammt und sich demzufolge in keine der gängigen Schubladen wirklich einordnen läßt. Neben einer recht gut besuchten Tour ist es vor allem der Chart-Einstieg des aktuellen Albums "Inferno", den Tilo Wolff, Sänger und Initiator von LACRIMOSA, noch nicht so richtig glauben kann.

Dabei hat alles ganz harmlos angefangen, wie mir der gute Mann auf Anfrage erzählt:

Ursprünglich wollte ich nur um meine Texte herum irgendwelche Klangcollagen bauen...

Was für Texte??

Ja, ich habe früher Kurzgeschichten, Erzählungen oder einfach nur so Texte geschrieben. Und dann hatte ich die Idee, daß man das ganze ja mit Geräuschkulissen im Hintergrund irgendwie vertonen könnte. Und als ich im Studio war und das mal ausprobiert habe, da hat es mich halt gepackt. Aus diesen Soundcollagen hat sich schließlich die Musik entwickelt.

Demnach hat LACRIMOSA als Ein-Mann-Projekt begonnen. Wie kam es denn jetzt zur Zusammenarbeit mit Anne Nurmi?

Ich wollte schon bei der Gründung von LACRIMOSA mit einer Freundin zusammenarbeiten. Mit der hatte ich mich dann allerdings ziemlich bald zerstritten. Und seitdem habe ich nach einem Ersatz für sie gesucht. Zwar nicht aktiv, aber die Idee war vorhanden. Da ich aber nicht nur nach einer guten Stimme gesucht habe, sondern nach einer, die auch Gefühle ausdrücken kann, hat das ziemlich lange gedauert - bis zum vierten Album. Mit Anne habe ich jetzt genau die richtige gefunden.

Und da beide dieselben musikalischen Wurzeln haben, halten sich die Konflikte wahrscheinlich in Grenzen ...

Anne wird auf der nächsten Scheibe einiges mehr singen und hoffentlich auch mehr komponieren, und die Songs, die dann auf Platte landen, sind einfach die, die das ausdrücken, was gefühlsmäßig ausgedrückt werden muß, ganz gleich, ob sie jetzt von Anne oder von mir stammen. Ferner sind wir beide auch so ziemlich auf einer Ebene, so daß keiner Angst haben muß, daß am Ende etwas auf der Platte landet, wo wir nicht beide voll hinterstehen.

Wie ist das mit den anderen Musikern? Werden die jetzt wieder ausgetauscht?

Nein. Es ist zwar so, daß Anne und ich jetzt LACRIMOSA bilden, aber AC und Jan (Schlagzeuger und Gitarrist - d. Verf.) im Studio und auf der Bühne wohl einige Zeit dabei bleiben, weil wir vollkommen zufrieden mit den beiden sind. Sie werden zwar keine Songs schreiben, aber sie werden sie mit umsetzen, und momentan ist das eigentlich das perfekte Team.

"Inferno" ist ja im Vergleich zu den alten Sachen relativ heavy geworden. Wie ergab sich das denn?

Grundsätzlich würde ich LACRIMOSA nicht als Gothic Rock oder Metal oder sowas bezeichnen. Ich denke, die Gitarren sind auf "Inferno" das erste Mal ordentlich produziert, aber ich würde nicht sagen, daß es Metal-Gitarren sind. "Inferno" und "Satura" sind musikalisch nicht allzuweit voneinander entfernt, aber von der Produktion her liegen Welten dazwischen. Ich wollte auch diesen Gitarrensound haben, weil ich zum einen selber gerne Metal höre und zum anderen, weil bei dem Inhalt von "Inferno" der Bombast da sein muß und genug Kraft rüberkommen muß. Das war mir extrem wichtig.

Du hörst aber sicher nicht nur Metal, oder?

Außer Jazz, Reggae, Hip Hop und Techno höre ich eigentlich alles, auch Klassik und Liedermacher und so. Es kommt immer darauf an, wie man die Musik hört, und ich höre sie so, wie ich sie auch mache, nämlich aus dem Herzen. Im allgemeinen gilt für meinen Musikgeschmack: Je härter, desto besser, aber auf der anderen Seite liebe ich auch sehr gefühlvolle und depressive Musik. Es kann auch passieren, daß ich nach extrem harten Stücken oder Passagen etwas sehr ruhiges brauche, also das genaue Gegenteil.

Sehr interessant, aber auch sehr abstrakt, sind die Texte der neuen Scheibe. Worum geht's da eigentlich?

Im Grunde genommen ist die "Inferno" ein Loblied an das Leben. Mag vielleicht etwas verwirrend klingen, aber die LACRIMOSA-Platten erzählen ja immer eine Geschichte, und wenn man die "Inferno" im Kontext zu ihren Vorgängern sieht, dann ist das so ein Aufbau, vor allem mit der "Satura". Eigentlich möchte ich die Texte nicht großartig weiter auseinandernehmen und erklären, weil ich denke, Kunst sollte nicht unbedingt eine Botschaft haben, wie zum Beispiel "Bringt euch nicht um" oder so. Das steckt zwar irgendwo mit drin, wird aber nie so gesagt. Kunst sollte sich nicht anmaßen, den Zuschauer oder Hörer auf irgendeine Weise zu beeinflussen, sondern sollte höchstens Türen öffnen und Wege aufzeigen. Alles andere ist keine Kunst, sondern Politik. Und bei LACRIMOSA ist das so, daß jeder, der da zuhört oder die Texte liest, sich sein eigenes Bild machen kann. Prinzipiell ist es allerdings so, daß ich meine Texte in Momenten schreibe, in denen ich nicht gerade in Partystimmung bin. Das sind dann halt auch nicht immer die positivsten Gefühle. Es war mir bei der "Inferno" sehr wichtig zu zeigen, daß das Leben halt nicht nur Sonnenseiten hat, aber daß es sich gerade deswegen lohnt, zu kämpfen, und immer wieder aufzustehen, und immer wieder weiterzumachen. Ich liebe das Leben, bin dankbar, jeden Morgen gesund aufstehen zu können, und habe keinerlei Intention, mir irgendwie einen Strick um den Hals zu hängen. Diese Einstellung kommt vielleicht auch daher, daß ich schon andere Momente hatte, und daher das Leben sehr schätzen gelernt habe. Und von daher sind die LACRIMOSA-Platten, vor allem die letzten beiden, sehr positiv.

Steht denn bei deinen Texten nur das Ausdrücken deiner Gefühle im Vordergrund, oder willst du nicht vielleicht doch irgendetwas bewirken beim Hörer.

Jeder Künstler, der irgendetwas veröffentlicht und dann sagt, er macht's nur für sich alleine, der lügt ja irgendwo. Am Anfang war's erstmal nur für mich selbst, aber inzwischen hat sich das natürlich geändert. Ich möchte insofern was bewirken, als daß ich mich freue, wenn ich Briefe kriege von Menschen, die schreiben, daß sie ähnliche Gefühle haben, und daß ihnen meine Musik, und vor allem die Texte, Kraft gegeben haben. Mein Anspruch ist eigentlich nur der, anderen Menschen mit meiner Musik Kraft zu geben, und ich freue mich natürlich, wenn ich den ein oder anderen wieder ein paar Meter weg vom Strick gebracht habe.

Sind die Reaktionen auf die Texte denn immer die, die du erwartest?

Größtenteils ja. Es kommt natürlich auch vor, daß Leute die Texte einfach nicht verstehen und dann irgendwelche Interpretationen ablassen, die etwa soviel mit meinen Texten zu tun haben wie eine Pizza. Manchmal, wenn die Leute die Sachen in eine negative Richtung interpretieren, frage ich mich schon: Habe ich überhaupt das Recht dazu, solche Texte zu schreiben? Die Gefahr, daß jemand sie falsch, das heißt negativ, interpretiert, ist natürlich gegeben. Nur dann müßte ich wohl aufhören zu atmen, denn alles, was ich mache, allein meine Existenz, könnte ja irgendwen dazu veranlassen, aus dem Fenster zu springen ...

Restless


Dieses Interview ist nun schon über ein Jahr alt und seinerzeit bereits (gekürzt) im POWERTRIP-Fanzine erschienen, aber der gelungene Live-Auftritt der Band und die "Entdeckung" ihrer Internet-Homepage haben mich dazu bewogen, es nun auch online verfügbar zu machen.
Das LACRIMOSA-Logo ist der offiziellen Homepage der Band (www.lacrimosa.de) entnommen.

 Zurück zu den Interviews
 Zurück zur Hauptseite
Suche:
powered by crawl-it
Valid HTML 4.01!