Sonntag, 1. Juni 1997, Dortmund (Ruhr-Rock-Hallen)
Puh, Glück gehabt. Vor zwei Tagen hatte ich noch nicht die geringste Ahnung, wie ich am heutigen Sonntag von Bonn nach Dortmund hätte kommen sollen (jaja, ich weiß, es gibt noch die Deutsche Bahn AG ...). Gerade gestern, beim SAXON-Konzert in Köln, ist es mir doch noch gelungen, Eddie, unseren Reinhold Messner-Verschnitt, zur Fahrt nach Dortmund zu überreden. Bei den Ködern freier Eintritt und EXODUS live konnte er aber nun auch wirklich nicht mehr nein sagen. So kamen wir um Punkt vier an der Halle an, wo allerdings noch ziemlich tote Hose war. ORPHANAGE sollten um halb fünf anfangen, was man spätestens vor der Halle erfuhr, da die Band nahezu jeden freien Quadratzentimeter Wandfläche mit dementsprechend beschrifteten Tourpostern beklebt hatte. Werbung rules?
Die Antwort muß in diesem Fall leider nein heißen, da gerade mal zwei Dutzend Leute vor der Bühne standen, als die Band selbige betrat. Das änderte sich auch während ihres knapp halbstündigen Auftritts nicht, obwohl es meiner Meinung nach wirklich schlechtere Bands gibt. Eigentlich spielt die Band Death Metal, aber die Sängerin soll dem Ganzen wohl einen Gothic-Touch verleihen. Hm. Wenn der Sänger anfing zu grunzen, wirkte sie jedenfalls etwas verloren auf der Bühne, da sie nicht zu wissen schien, ob sie headbangen oder sich gothic-mäßig (wie Liv Kristine von THEATRE OF TRAGEDY oder Anneke von THE GATHERING) bewegen soll. Aber sie sah nett aus, und die Mucke fand ich auch okay. Spaßig waren noch die beiden EXODUS-Gitarristen (einer mit kurzen, der andere schon mit etwas lichten Haaren), die gegen Ende des ORPHANAGE-Sets auf der Bühne rumturnten und sich aktiv am Schlagzeugspiel beteiligten. Tja, das war der letzte Tag dieser Tour, und da macht man schonmal solche Späße. Zusammenfassend kann man sagen: ORPHANAGE paßten wohl nicht so ganz ins Billing.
Das trifft für IN FLAMES in abgeschwächter Form auch zu. An sich war ich auf diese Band sehr gespannt, war der gitarrenorientierte, melodische Death-Metal auf ihrem Album "The Jester Race" doch eines der Highlights des letzten Jahres. Aber ich wurde bitter enttäuscht. Okay, der Auftritt der Band war hart und heftig, sollte also allen Hardlinern etwas gegeben haben, aber von den Melodien des Albums blieb in dem Geschrabbel, das live produziert wurde, nicht viel übrig. Den Rest besorgte dann die viel zu laute PA. Ich stand zwar recht nahe an der linken Box, glaube aber nicht, daß es daran gelegen hat, weil es den Rest des Abends auch zu laut war. Bei IN FLAMES lautet die Abschlußbemerkung: Schade, sei's drum.
HATE SQUAD hatte ich schon einmal live gesehen, im Vorprogramm von ATROCITY und CREMATORY. Damals war meine Meinung: Ganz okay, um dabei ein Bier zu trinken. Seit ihrer Remix-Scheiße namens "Sub Zero" habe ich jedoch keinen Bock mehr auf diese Band. Deswegen habe mich Richtung Theke verzogen, wo ich zwar nix von HATE SQUAD mitbekommen habe, wo aber ein denkwürdiges Gespräch über die ORPHANAGE-Sängerin stattfand (Susanne aus Düsseldorf: "Meinst du die in dem roten Kleid?" - Restless aus Bonn: "Keine Ahnung. Ich mein' die mit der großen Oberweite").
In der folgenden Umbaupause dann die Nachricht von Jürgen, meinem
Backstage-Informanden: FORBIDDEN haben sich vor zehn Tagen aufgelöst.
Folglich spielen sie heute auch nicht, was die nicht vorhandenen
FORBIDDEN-Shirts am Merchandise-Stand erklärt. Dann hieß es erstmal
rumlaufen und allen, die wegen EXODUS da waren (also allen, die ich kannte)
erzählen, daß gleich EXODUS spielen würden und sie
gefälligst ihren Arsch in die erste Reihe bewegen sollten. Das tat ich dann
auch, und los ging's mit - wie sollte es anders sein -
"Bonded By Blood", direkt gefolgt von "Exodus". War meine
Nackenmuskulatur vom gestrigen SAXON-Konzert noch etwas mitgenommen, so sollte
ich ihr jetzt den Rest geben. Es wurde also mächtig geheadbangt (oder
heißt es headgebangt?), gemosht, Luftgitarre gespielt und gestagedivt
(oder besser geabsperrungsdivt), während die alten Männer auf der
Bühne quasi das gesamte "Bonded By Blood"-Material zum Besten
gaben. Ich stand in der zweiten Reihe eigentlich noch ganz gut; richtig wild
ging es hinter mir zu, wo auch eine Schlägerei nicht fehlte. Warum gibt
es eigentlich immer wieder so Holzköppe, die nicht kapieren, daß man
auf einem Konzert auch Spaß haben kann? An dieser Stelle auch ein Lob
an die Security, die die Situation immer im Griff hatte und den Fans
gegenüber eigentlich sehr fair war, obwohl die meisten Stagediver wohl
auch alleine wieder den Weg aus dem Fotograben gefunden hätten ...
Zurück zu EXODUS: Es wurde wirklich nur Material der allerersten Scheibe
gespielt, einem Stück Vinyl, das - was den jüngeren unter Euch
mal gesagt sein soll - in einem Atemzug mit der aus derselben Zeit stammenden
"Kill 'Em All" von METALLICA zu nennen ist. Offen bleibt die Frage,
was die Zukunft einer Band bringt, deren Faszination von dem
Live-Runterschrubben von über zehn Jahre alten Songs ausgeht. Noch dazu,
wenn der Säger sowohl optisch als auch von den stimmlichen Fähigkeiten
her als eine Mischung aus Rumpelstilzchen und Schweinchen Dick durchgeht.
Warten wir mal ab.
Nach EXODUS war ich naßgeschwitzt und völlig fertig, so daß das Festival eigentlich schon gelaufen war. Nach einer Currywurst mit Fritten (auch wenn die Baguettes alle waren: auch an die Halle ein Lob wegen der vorhandenen Versorgung mit Eßbarem, die nicht überall selbstverständlich ist - schon gar nicht zu dermaßen humanen Preisen) ging's mir wieder besser, und ich konnte mir GRIP INC. zumindest von weiter hinten anschauen. Die Band um Dave Lombardo und Waldemar Sorychta entwickelte sich in den folgenden 50 Minuten zum Abräumer des Abends. Zwar war auch hier die PA zu laut, aber der Sound war wenigstens sehr gut, so daß sowohl die Doublebass-Attacken des ehemaligen SLAYER-Schlagwerkers als auch die Riffs von Waldemar mächtig brutal rüberkamen. Dazu ein Frontmann, der - selbst wenn man ihn vielleicht nicht leiden kann - eine Persönlichkeit darstellt. GRIP INC. spielten eine gute Mischung ihrer beiden Alben, inklusive "Hostage To Heaven", vor der Bühne war der Mob am Toben, und das erste Mal am heutigen Tag wurde die Lichtanlage richtig effektiv eingesetzt. Auch GRIP INC. hatte ich schon einmal gesehen, im Vorprogramm von MOTÖRHEAD, aber damals war ich so voll, daß ich mich kaum an etwas erinnern kann. Heute zumindest kam der Auftritt dermaßen energiegeladen und professionell rüber, daß man die Band als heimlichen Headliner dieses Festivals bezeichnen kann.
Das dachten wohl auch einige der anwesenden Zuschauer. War bei EXODUS die Halle immer noch nicht voll gewesen, schienen bei SAMAEL schon wieder die ersten einen Abflug zu machen. Zugegeben: Auch ich war etwas skeptisch, was die vier Schweizer heute aus ihrem Auftritt machen; ihr Auftritt bei den Festivals im August 96 hatte seinerzeit schon einen faden Beigeschmack hinterlassen. Nach einem viel zu langen Intro kamen dann endlich die Musiker auf die Bühne. Und was sich in den nächsten 50 Minuten auf der Bühne abspielte, hat mich dann doch äußerst positiv überrascht. Da war zunächst mal die (Light-)Show an sich. So waren auf der Bühne mehrere Strahler postiert, deren bunte, gebündelte Strahlen über Bühne, Halle und Decke wanderten und die alleine schon eine leicht schaurige Atmosphäre verbreiteten. Dazu kam die Musik, die immer kälter, technolastiger und fremdartiger zu werden scheint, was darin gipfelte, daß auch ältere Songs in einem neuen, von Samples dominierten Soundgewand präsentiert wurden. Zu guterletzt dann die Musiker, wobei der über allem thronende Drummer (wenn man jemanden, der Drumcomputer, Samples und hin und wieder ein paar Toms bedient, so nennen kann) genauso auffiel wie Sänger und Frontmann Vorph, der zunächst mit Wollmütze die Bühne betrat, später aber seine tätowierte oder angemalte Glatze offenlegte. Mit den knappen Ansagen und der bewußt eingehaltenen Distanz zum Publikum verbreitet die Band eine feindselig wirkende Atmosphäre, die aber zur Musik und Show hervorragend paßt, und wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, daß ein SAMAEL-Auftritt mit etwas anderen Maßstäben zu messen ist, muß man die Leistung der Schweizer letztendlich doch anerkennen. Und die Aggressivität, die die Musiker in ihre Live-Performance einfließen lassen, ist auch als positiv zu bewerten. Ich zumindest finde es gut, daß es auch im harten Bereich Bands gibt, die bewußt visuell und mit Atmosphäre arbeiten, ohne dabei so gelangweilt wie etwa TIAMAT zu wirken. Ins ganze Bild paßte zu guterletzt dann auch noch die etwas unübliche Verwendung eines Outros. Dieses fing unmittelbar nach dem letzten Song an, so daß dazwischen niemand klatschte, und dauerte mehrere Minuten, so daß danach auch niemand mehr klatschte. Fazit: Die Band ist ohne Applaus von der Bühne gegangen. Cool.
Auch KREATOR brachten ihre eigene Show mit, was die Umbaupause etwas verlängerte. Vier fahrbare, weiße, halb durchscheinende Wände wurden auf die ansonsten leere Bühne geschoben. Diese wurden im Verlauf des folgenden Auftritts von hinten mit allen möglichen Farben angestrahlt. Daneben arbeiteten auch KREATOR mit Strahlern. Für jeden Musiker gab es noch ein etwa zehn Zentimeter hohes Podest. Das war's. Und auch KREATOR schufen eine ganz eigene Atmosphäre, die jedoch aufgrund des intensiveren Kontaktes zum Publikum und des anders gearteten Songmaterials doch anders wirkte als bei SAMAEL. Was die Musik betrifft, hauten KREATOR ordentlich auf die Kacke. Der Drummer spielte streckenweise so schnell, daß ich mit dem Bangen nicht mehr nachkam. Und bangen wollte man schon, stellte doch die Songauswahl mit u.a. "Pleasure To Kill" und "Flag Of Hate" auch Alt-Thrasher wie mich zufrieden.
Nach mittlerweile sieben Bands und etlichen Bieren stellte sich gegen halb zwölf abends doch eine gewisse Müdigkeit ein. Schon vor SODOM leerte sich die Halle ein wenig, wodurch man's auch in der zweiten Reihe wieder aushielt. Tom Angelripper und seine Mannen verzichteten im Gegensatz zu den beiden vorherigen Bands auf großangelegte Lichteffekte; SODOM versuchten dagegen, noch ein wenig Partystimmung in die Halle zu bringen. Das das alles ziemlich feucht-fröhlich werden würde, war schon klar, als Tom nach dem dritten Song meinte "Ich kann nicht mehr", und wurde dann dadurch bestätigt, daß man in erster Linie die deutschsprachigen Songs der SODOM-Alben runterbretterte. Dazu kamen "Outbreak Of Evil" und "Blasphemer" vom Erstling, die jedoch unter dem mittlerweile wieder schlechter werdenden Sound zu leiden hatten. Beim gleichnamigen Song besorgte Tom es dann einer "Stummen Ursel" auf der Bühne, wobei der Guten dann aber schnell die Luft ausging. Ein paar Pyros wurden noch gezündet, mit "Es gibt kein Bier auf Hawaii" allen Alkoholikern ein Gefallen getan und "Sodomy and Lust" trotz mehrmaligem Zurufen nicht gespielt, bis um halb eins dann der ganze Spaß vorbei war.
Zusammenfassend kann man sagen, daß Festivals schon eine geile Sache sind. Dieses hier war natürlich sehr heftig, und wenn man wie ich schon nach EXODUS ziemlich ausgepowert war, hatte man danach streckenweise Mühe, die Bands wirklich richtig zu genießen. Dazu kam etwas, das bei Open Air-Festivals schon schlimm genug ist, aber in der Halle mangels Belüftung noch ganz andere Ausmaße annehmen kann: Nach wenigen Stunden stank es überall nach Schweiß, Alkohol und Fürzen. Dennoch: Hat Spaß gemacht, das Ganze. Nur: Vielleicht sollten die Veranstalter bei solchen Events die musikalische Spannweite etwas breiter fächern, damit man zwischendurch mal zwei Stunden oder so relaxen kann.
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